Tourenbericht Bergsteigen

Ist der Monte Disgrazia eine Reise wert?

Monte Disgrazia (3.678 m), Nordwestgrat (Normalweg) am 11./12. September 2015

 

Immerhin sind es beinahe 500 km von Tübingen nach Cattaeggio, dem Talort in Val Masino / Sondrio, von wo aus es dann noch einige steile Kilometer zum Ausgangspunkt sind. Entgegen allen Unkenrufen handelt es sich bei dem als „abenteuerliche Schotterpiste“ beschriebenen Finale um eine zwischenzeitlich recht ordentlich befestige, meist gut asphaltierte Straße.

 

Dennoch wurde in Tübingen am Freitag gegen 07:00 Uhr mit dem DAV Bus gestartet und der Komfort von neun Sitzplätzen und zwei Tourenleitern – u. a. dem Vorstand persönlich (!) -  von drei Teilnehmern in Anspruch genommen: eine Urlaubsreise Kategorie de luxe, gebucht bei der DAV Sektion Tübingen.

 

Nach über sieben Stunden erreichten wir unseren Ausgangspunkt Preda Rossa (1.955 m) und nach weiteren zwei Stunden zu Fuß die Refugio Cesare Ponti auf 2.556 m. Dort wurden wir vom Hüttenwirt im wahrsten Sinne des Wortes  mit offenen Armen in Empfang genommen und mit Handschlag begrüßt. Nachdem jeder von uns einen italienischen Wortschatz von 20 bis 25 Ausdrücken sein Eigen nennt, brachten wir das Kunststück fertig, eine nahezu reibungslose Kommunikation mit Ezio zu führen. Edith hatte aufgrund ihrer Affinität zum romanischen Zweig der rätogermanischen Sprachfamilien die Nase vorn, und so saßen wir nach dem Bezug unseres Lagers bald vor einer heiß gebrühten Tasse Cappuccino und einem Stück „torta“.

Zum Abendessen reichten Ezeo und Amedea Pasta als primero plato, fagioli con carne als segundo und panna cotta als „grande finale“, dazu vino rosso de la casa.

 

Nachdem wir am nächsten Tag um fünf Uhr frühstücken wollten, nahm der ein oder andere sein Recht auf Bettruhe bereits früh in Anspruch, andere gaben sich noch den Gaumenfreuden hin; keiner musste um einen Lagerplatz fürchten – uns fünfen standen 66 (!) freie Lagerplätze zur Verfügung!

 

k-FullSizeRender Nach einem etwas kargen prima colazione, bestehend aus Weißbrot, Butter und Marmelade, brachen wir am nächsten Morgen um 5:45 Uhr auf und fanden dank unserer Stirnlampen und Michaels guter Orientierung den Weg zum Moränenrücken am Rand des Preda Rossa Gletschers. Nach  einer knappen Stunde erreichten wir bei leichtem Niesel bis Schneefall den Moränenkamm; dies verwunderte uns insofern, als uns der Samstag von mehreren einschlägigen Wetterberichtsplattformen als niederschlagsfreier und wettertechnisch stabiler Tag prognostiziert worden war.  Der schmale Moränenkamm stellte die ideale Orientierungshilfe dar, da der Weg nun trotz der nahezu geschlossenen Schneedecke klar definiert war. Über diesen ging es nun hinauf bis unterhalb des Gletschers, wo sich der Weg im Blockgelände das ein oder andere Mal zu verlieren drohte. Nach insgesamt knapp zwei Stunden erreichten wir den Gletscher, welcher von uns parallel zur Spaltenzone betreten wurde. Hier bildeten wir eine Fünferseilschaft und stiegen auf bis zur Sella di Pioda, wo der Nordwestgrat, eigentlich das Highlight der Tour, beginnen sollte.

Leider waren zwischenzeitlich bereits über drei Stunden vergangen, und die von uns heiß ersehnte Sonne lies sich noch nicht ansatzweise erahnen. Zudem wehte uns mittlerweile ein kühles und immer stärker werdendes Lüftchen um die Nase, von Sicht auf den Grat oder gar gen Gipfel konnte keine Rede sein. Das Hauptproblem war jedoch die Schnee- und Eisschicht, welche sich dank des Niederschlags der vergangenen Tage und der letzten Nacht über das Blockgelände und den Grat gezogen hatte. Nach einer zehnminütigen Krisensitzung, welche aufgrund der widrigen Verhältnisse im Stehen stattfinden sollte, packten wir den Gipfelschnaps bereits 300 m unterhalb des Gipfels aus und entschieden einstimmig ohne Gegenstimme, an diesem Tage keine „Winterbegehung“ durchführen zu wollen.

Der Rückzug verlief reibungslos, so dass wir zweieinhalb Stunden später an der Hütte anlangten und uns dort zur Mittagszeit noch eine Minestrone genehmigten. Eine Stunde später hatten wir gespeist, unsere Schulden beglichen, unsere Rucksäcke gepackt und die Abmarschbereitschaft wieder hergestellt.  

In anderthalb Stunden erreichten wir unseren DAV Bus und bereits gegen 17:00 Uhr die italienisch-schweizerische Grenze. Kurz nach Montespluga fanden wir ein Edith und Karl aus vorangegangenen Touren bekanntes Cafe-Restaurant, wo wir unsere Abschlussbesprechung beim obligatorischen Cappuccino con tarta abhielten. Anschließend wurde noch für die Liebsten, Babysitter und Kletterkameraden crotta ombra formaggio, vino rosso und grappa  eingekauft und endgültig die Heimreise angetreten. Zwar ohne Gipfel, jedoch mit einem sehr schönen Eindruck von den Bergeller Bergen in der Lombardei und allerlei Leckereien im Gepäck fuhren wir mit Plänen für das nächste Jahr nach Hause.

 

Ja, der Monte Disgrazia ist eine Reise wert.

 

Lando Huber-Denzel